Was geschah am 5. März 1946?

Also heute vor 75 Jahren

(5. März 1946) Das Gesetz zur Befreiung von Nationalsozialismus und Militarismus in der US-Zone überträgt die Entnazifizierung deutschen Spruchkammern und als zweiter Instanz Berufungskammern. Alle Deutschen über 18 Jahre sind per Fragebogen zu überprüfen, ob sie als Hauptschuldige, Belastete, Minderbelastete, Mitläufer, Entlastete oder Nichtbetroffene gelten.

Unter dem Stichwort “Entnazifizierung” findet sich bei Wikipedia der folgende Eintrag: Viele der tief in die NS-Vergangenheit verstrickten Mitläufer konnten in der Bundesrepublik Deutschland unbehelligt nach 1949 Karriere machen. Mit Persilscheinen, die ihnen von (mutmaßlichen) Opfern für die beurteilenden Kommissionen und Spruchkammern ausgestellt wurden, gingen sie in die Politik, Justiz, Verwaltung, Polizei und an die Universitäten zurück; oft auch unter falschem Namen und häufig unter Mithilfe der Netzwerke (Rattenlinien) alter Kameraden oder von „Seilschaften“.

Dazu ein Text aus dem Buch “Und sie wurden zerstreut unter alle Völker” von Werner Keller.

Als am 1. April 1933 die SA als Schlägertruppe der “Kampfzeit” in allen Städten einen Boykott gegen jüdische Geschäftsleute inszenierte, erhob sich keinerlei Protest. Wenige Tage nach dieser ersten Probe aufs Exempel erging, akklamiert von den Deutschnationalen, im Reichstag am 7. April 1933 das “Gesetz zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums”, das alle Beamte nichtarischer Abstammung in den Ruhestand versetzte. …Zwei Jahre später, am 15. September 1935, ließ Hitler in der Stadt, die sich schon im Mittelalter als Brutstätte antijüdischer Gefühle erwiesen hatte, die “Nürnberger Gesetze” verkünden – das “Reichsbürgergesetz” und das “Gesetz zum Schutze des deutschen Blutes und der deutschen Ehre”. Sie degradierten die deutschen Juden offiziell zu Bürgern zweiter Klasse, raubten sie ihnen doch auf immer die deutsche Staatsbürgerschaft. Eheschließungen und außerehelicher Geschlechtsverkehr zwischen Ariern und Juden wurden verboten, die Juden verloren das aktive und passive Wahlrecht. Keiner von ihnen durfte mehr ein öffentliches Amt bekleiden….

…Mehr als eine halbe Million Menschen waren mit einem Schlage entrechtet. Am schlimmsten sahen sich die Angehörigen der geistigen Berufe betroffen, denen jäh der Boden unter den Füßen entzogen war: Universitätsprofessoren, unter ihnen Gelehrte von Weltruf, wie Ärzte, Rechtsanwälte wie Architekten, Schriftsteller und Journalisten. Das gebildete Deutschland aber schwieg. Keine Empörung flammte in den Reihen des Bürgertums auf, kein Sturm des Protestes erhob sich in den Reihen der Hochschullehrer, als ihre jüdischen Kollegen über Nacht von den Lehrstühlen gejagt wurden. Deutschland schien in allen Schichten, auch unter seinen Besten, von allen guten Geistern verlassen. Nirgends kam es zu offenem Einspruch gegen die jeder Gerechtigkeit Hohn sprechenden, eines Kulturvolkes beschämend unwürdigen Maßnahmen…

… In der Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 kam es angeführt von SA-Leuten, “spontan” zu schweren antijüdischen Ausschreitungen. Deutschland wurde zum Schauplatz eines regelrechten Pogroms: Überall wurden die Synagogen in Brand gesetzt (Bild oben: Auch die Wiesbadener Synagoge wurde in jener Nacht zerstört). Während fast sechshundert Gotteshäuser, dazu Gemeindehäuser und Friedhofskapellen, in Schutt und Trümmer sanken, zerstörte das braune Gesindel jüdische Geschäfte und Warenhäuser. Jüdische Häuser wurden überfallen, ihre Bewohner aus den Wohnungen getrieben und mißhandelt. Das Ausmaß der Zerstörung war erschütternd groß: Jüdisches Eigentum im Werte von vielen Millionen R-Mark war in jener berüchtigten Kristallnacht sinnlos vernichtet worden. Aber selbst das genügte den NS-Machthabern nicht. Als “Buße” …. wurden den deutschen Juden obendrein eine Geldstrafe in Höhe von einer Milliarde R-Mark auferlegt. Zugleich erging der Befehl, alle noch bestehenden jüdischen Geschäfte und Unternehmen in “arische” Hände zu übertragen.

Ein Schauder ergriff die zivilisierte Welt, ein Sturm der Entrüstung lief durch die ausländische Presse. Die Deutschland regte sich nichts, keine Stimme erhob sich, die die verbrecherischen Aktionen öffentlich anzuprangern wagte. War jedes Rechtsbewusstsein, jedes sittliche Verantwortungsgefühl im “Volk der Dichter und Denker” erloschen?

Wie reagierten die Dänen und Niederländer auf die antijüdischen Gesetze der deutschen Besatzer? Dazu im Buch (Seite 500) … In Dänemark kam es zu Protesten. Die Bevölkerung lehnte die antijüdischen Maßnahmen strikt ab, der König, so hieß es, werde sich selbst einen Judenstern anheften, wenn man irgendeinen Bürger seines Landes dazu zwänge. Als 1943 Deutsche schließlich selbst die Verwaltung (Dänemarks) übernahmen und heimlich anordneten, alle “Nichtarier” zu verhaften, wurde ihr Plan vereitelt: Beherzte Dänen brachten mit Booten in aller Stille die jüdische Gemeinde nahezu vollständig nach Schweden…In den Niederlanden wurde, um die Deportationen (der Juden) zu verhindern, im Februar 1941 ein Generalstreik ausgerufen.

Der Antisemitismus ist ein weltweites Phänomen seit über 3.000 Jahren. Im Mittelalter wurden Juden aus England vertrieben, dann aus Frankreich und schließlich aus Spanien und Portugal. Das Besondere an der deutschen Geschichte ist nicht der Hass auf die Juden, der aktuell an vielen Orten wieder offen ausbricht. Das wahrhaft traurige war die deutsche Perfektion, die es schaffte in einer Zeitspanne von nur dreieinhalb Jahren 5 – 6 Millionen Juden auf organisierte Weise zu entsorgen. Diese unglaubliche Kraftanstrengung wurde möglich, weil Hunderttausende pflichtbewusste Deutsche mithalfen als Zugführer und Lastwagenfahrer, Bauarbeiter und Installateure, Polizisten sowie Sekretärinnen in den unzähligen Büros auf allen Ebenen.

Letztendlich ging man nach dem Gesetz am 5. März 1946 sehr schnell wieder zur Tagesordnung über. Wo blieb damals der Aufschrei der deutschen Christenheit? War Jesus nicht selbst Jude? Die Geschwister Scholl waren überzeugte Christen und Dietrich Bonhoeffer auch. Aber unter den Millionen von Christen kann man den christlich motivierte Widerstand gegen die braune Diktatur gewissermaßen an den berühmten fünf Fingern abzählen.

Bleibt die Frage, wie wir gehandelt hätten, wenn wir damals gelebt hätten? Wahrscheinlich lautet die Antwort: In gleicher Weise. Denn wir alle sind immer die Kinder unserer Zeit. – Unsere Stunde schlägt heute. Wir sind jetzt gefordert, unsere Überzeugungen zu leben und zu bekennen. Hoffentlich versagen wir nicht bei der Aufgabe, die die Geschichte uns stellt. /KDJ

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