Zwei Engel in der Nacht

Chronologie einer himmlischen Begegnung

Das Treffen im Zentrum von Lima stand für 12 Uhr am Mittag. Drei hochrangige Beamte – einer von ihnen der Generaldirektor und ein anderer der Generalsekretär des Außenministeriums – wollten mir mit ihrem Rat und Einfluss zur Seite stehen. Immerhin sollte es um die Visa-Angelegenheiten aller Kurzzeitmitarbeiter von Diospi Suyana gehen. Den Flug für 7 Uhr am Mittwochmorgen von Cusco nach Lima konnte ich kurzfristig über eine Agentur kaufen. Das Ticket war zugegebenermaßen nicht ganz billig. Aber die Unterredung mit den Diplomaten hatte für Diospi Suyana einen unschätzbaren Wert.

Das Fundament der Brücke über den Rio Blanco. Etwa 10 km vor Limatambo. Foto aus dem Internet vom Vortag

Plötzlich geschieht am Dienstag ein Naturereignis, das man getrost als höhere Gewalt bezeichnen kann. Eine Lawine aus Geröll und Schlamm wälzt sich mit hoher Geschwindigkeit den Fluss “Rio Blanco” hinunter und beschädigt die Fundamente zweier Brücken.

Die Überlandstraße zwischen Lima und Cusco wird aus Sicherheitsgründen gesperrt und Tausende Fahrer müssen ihre Autos, Lastwagen und Busse irgendwo abstellen und Däumchen drehen.

Ein Protokoll:
Um 2:50 Uhr in der Nacht springe ich aus dem Bett. Eine Dusche und noch ein Glas Saft. Mit eiligen Schritten gehe ich die 400 Meter zum Taxistand am Ortseingang von Curahuasi. Ich möchte das allererste Taxi des Tages erwischen.

Um 3:25 Uhr beiße ich in den sauren Apfel und bezahle für vier Fahrgäste, denn die Zeit sitzt mir im Nacken. Auf meinem Ticket steht: “Boarding um 6 Uhr” und jetzt zählen die Minuten.

Selbst wenn alles laufen sollte wie am Schnürchen, werde ich wohl erst kurz vor halb Sieben den Flughafen erreichen. Knapper geht nicht.

3:30 Uhr. Taxifahrer Don César – ein alter Bekannter – bläst zum Aufbruch. Er wird mich und zwei weitere Fahrgäste bis zum Rio Blanco bringen. “Sie können die Brücke zu Fuß überqueren”, versichert er mir, “und auf der anderen Seite in das nächste Taxi einsteigen!”

40 Minuten später. Schon einen Kilometer vor der besagten Brücke stehen die Fahrzeuge auf der Überlandstraße und warten auf bessere Zeiten. Es ist 4:10 Uhr und noch stockdunkel. Im Nieselregen schnappe ich meine beiden Taschen und laufe los. Einige hundert Menschen verlassen diverse Busse und schlagen die gleiche Richtung ein wie ich.

Unablässig rechne ich im Kopf die weiteren Etappen durch. “Falls ich nach meinem Fußmarsch drüben wirklich einen Wagen finden sollte – das wäre wohl so um 4:20 Uhr -, benötigt der Fahrer mindesten eine Stunde und 45 Minuten bis Arcopata, einer Taxisammelstelle am Rande von Cusco. Für die letzten 8 Kilometer durch die Stadt brauche ich in einem dritten Fahrzeug – je nach Verkehr noch einmal 20 – 30 Minuten. Meine Ankunft am Flughafen wäre dann um 6:35 Uhr. Ich müsste noch durch die Kontrollen am Flughafen und… Die bittere Erkenntnis setzt sich durch, dass ich es nicht schaffen werde, selbst wenn sich die Dinge optimal entwickeln sollten.

“Herr, mein Leben liegt in Deiner Hand”, bete ich im Stillen, “ich bin mit dem ersten Taxi los und habe alles getan, was in meiner Macht steht. Bitte hilf mir!”

Ein ohrenbetäubender Lärm. Es muss in der Nacht kräftig geschüttet haben. Ich kann die Fluten des Rio Blanco zwar nicht sehen, aber um so deutlicher hören. Ich beschleunige meine Schritte. Was wäre, wenn die Gewalt der Strömung die Fundamente der Brücke zum Einsturz brächte? Ich mag diesen Gedanken gar nicht zu Ende denken.

Auf der gegenüberliegenden Seite haste ich an Bussen vorbei, die sich bald mit Fahrgästen füllen werden. Für mich sind sie leider keine Option. Bei der Busgeschwindigkeit käme ich erst zwischen 7 Uhr und 7:30 Uhr in Cusco am Flughafen an. Vielleicht könnte ich dann mein Flugzeug noch als winzigen Punkt am Horizont ausmachen.

“Wo sind die Autos?” – César hat mir doch versichert, es gäbe hier Taxis, um uns weiterzubefördern. Es ist keines da! – Ein Hauch von Realismus macht sich bei mir breit. Die Chancen rechtzeitig am Flughafen stolz mein Ticket als “Platinum-Passagier” vorzuzeigen, sind gerade eben auf Null gesunken.

Das darf doch nicht wahr sein. Die Schlange der Fahrzeuge habe ich längst hinter mir gelassen. Vor mir sehe ich nur noch die Schwärze der Nacht. Ich bete… “Herr, Dein Wille geschehe!”

Noch einmal drehe ich mich um. Ein Lichtkegel leuchtet auf und kommt langsam näher. Ich erkenne einen Allradwagen der Polizei, der an mir vorbeikriecht und Limatambo – noch 10 km entfernt – entgegenrollt. Sehnsüchtig blicke ich den Rücklichtern des Toyotas hinterher. Schade. Das wär’s gewesen. Aber weg ist er.

Was ist da vorne los? 50 Meter vor mir hält der Hilux an und wartet. Auf wen eigentlich? Ich setze mich sofort in Bewegung mit einer tiefen Hoffnung, die mich nie verlässt. Schon klopfe ich an die Beifahrertür. Das Fenster öffnet sich. “Ich bin der Direktor des Hospitals Diospi Suyana. Mein Flugzeug wird in Cusco um 7 Uhr abheben. Können Sie mich bis zu einem Taxistand in Limatambo mitnehmen?” Ich habe noch nicht einmal “Guten Morgen” gesagt. Es kommt auf jede Minute an. Und mein flehentlicher Ton macht jedem klar, dass die Zeit gegen mich arbeitet.

Von einem zum anderen Augenblick tauchen weitere Leute auf und wollen das Gleiche wie ich. Es entsteht ein kleines Durcheinander. Aber Fakt ist, dass ich eine Minute später auf der Rückbank sitze und mein Gepäck etwas krampfhaft an mich presse. In meinem Kopf rattern die Gedanken. “Zuerst nach Limatambo zum Taxistand, dann 90 Minuten nach Arcopata, dann…!”

Der Fahrer zündet den Motor und schaltet vom ersten in den zweiten Gang. Dann in den Dritten. Die 10 Kilometer nach Limatambo wären also geregelt.

“Es gibt heute in Limatambo keine Taxis”, äußerst sich der Polizist am Steuer lakonisch. “Die sind längst alle weg!”

Limatambo. Man sieht keine Menschenseele auf der Straße, von einem Taxi ganz zu schweigen. Der Toyota fährt weiter. Eine Serpentine nach der anderen. 27 Kilometer klettert er nach oben zur abgebrannten Moutstation. Nun bewältigt der weiße Hilux mit der Aufschrift “Policia” 28 Kilometer nach Izcuchaca. Die Kleinstadt haben wir längst hinter uns gelassen, da fragen mich die Polizisten: “Wann müssen sie am Flughafen sein? -“Eigentlich kurz nach 6 Uhr, dann ist nämlich Boarding!” – Warum fragen die mich das überhaupt?

Der Allradwagen beschleunigt. Noch 25 Kilometer bis zum Stadtrand von Cusco. Über geheimnisvolle Abkürzungen versuchen die beiden Engel auf dem Vordersitz etwas zu schaffen, was zeitmäßig gar nicht mehr möglich ist.

6:10 Uhr. Der Wagen hält vor dem Flughafen. Unglaublich. Auf der letzten Wegstrecke habe ich den Herren in Dunkelgrün Geschichten von Diospi Suyana erzählt. “Wissen sie”, habe ich betont, “Diospi Suyana ist ein Werk des Glaubens. Ohne Glauben läuft bei uns gar nichts!” – Ein Dankeschön, ein Foto, eine Umarmung.

Ich eile durch den Flughafen. Hastig passiere ich die Kontrollen. “Wollen Sie in den Flug LA 2004?”, fragt mich eine Angestellte von Latam. “In fünf Minuten ist Einsteigen!”

Ich schüttele ungläubig mit dem Kopf. Die Polizisten haben mich 90 Kilometer zum Flughafen gebracht. Am Ende über diverse Abkürzungen. Und das alles: Kostenlos!!

Seit 1998 arbeite ich in Südamerika. So etwas habe ich noch nie erlebt. Und eine Frage kann ich beim besten Willen nicht beantworten. “Warum hielt der Toyota urplötzlich an. 50 Meter vor mir in der Nacht?”

Das Flugzeug startet. Überpünktlich…. Eine Stunde vom Flughafen in Lima zum Gästehaus unserer Mission. Ich wechsele meine Kleidung. Dezentes Grau, ein roter Schlips und glänzend schwarze Schuhe.

Um 12 Uhr schüttele ich im Ministerium die Hände von drei hochrangigen Diplomaten, als ob nichts gewesen wäre. Im allgemeinen Brainstorming kommen wir Vier der Lösung für unser Visa-Problem verdächtig nahe.
Ich bin nicht immer voll bei der Sache. Längst überlege ich mir, wie ich diese Begegnung mit den zwei Engeln der peruanischen Polizei in mein viertes Buch einbauen könnte. Einer hieß übrigens mit Nachnamen Cardenas und sein Kollege Gutierrez. Ich werde die beiden wohl nie wiedersehen. /KDJ

Mein Dank aus tiefsten Herzen
Die Zusammenkunft ist vorbei.  Vor dem Außenministerium Perus kurz vor 13 Uhr
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