Unter dem Kreuz
Es ist fünf Uhr am Morgen. Am Eingang des Spitals steht eine Ambulanz. Drinnen kämpft ein Mann gegen den Tod. Draußen blicken vier Menschen zum dunklen Himmel nach oben. Im Nebel der Nacht erkennen sie eine Figur. Es handelt sich um das Kreuz der Krankenhauskirche, das ein Lichtreflex auf die himmlische Leinwand projiziert. Die Menschen am Boden sind tief berührt, denn diese Erscheinung erinnert sie für einen Moment daran, dass Gott da ist. ER hat sie nicht vergessen. Für den Patienten auf der Trage haben viele in dieser Hoffnung ihre Hände gefaltet.
Es bleibt unsere Entscheidung. Wir können unter dem Kreuz Christi leben oder unter dem grausamen Damoklesschwert des Zufalls. Vor einer Woche stürzte in Curahuasi ein Auto in die Tiefe. Die beiden Insassen waren sofort tot. „Wir wissen nicht, wann uns die Stunde schlägt!“, sagte mir am Morgen der Taxifahrer, der mich zum Spital brachte.
Zu allen Zeiten – besonders in der Not – haben Männer und Frauen ihre Blicke nach oben zu Gott gerichtet. Dabei flüsterten sie voller Sehnsucht die Worte Christi: „In der Welt habt ihr Angst, aber siehe, ich habe die Welt überwunden!“
Erinnerungen. Es ist schon lange her. Meine Mutter erzählte mir von der Flucht der Familie aus Pommern. In endlosen Kolonnen saßen die Flüchtlinge auf ihren voll bepackten Kutschen oder sie zogen schwere Leiterwagen hinter sich her. Von oben schossen russische Tiefflieger in die Menge. Tote und Verwundete. Grenzenlose Angst und Verzweiflung. In den nächtlichen Auffanglagern hockten sie zusammengepfercht beieinander. Unter ihnen meine Mutter mit ihren Geschwistern. Die Gedanken aller kreisten um geliebte Anverwandte von denen niemand wusste, ob sie noch lebten. Mit einem Mal summte jemand ein Lied und plötzlich stimmten Tausende mit ein. Die alten Kirchenlieder, die man wohl schon im 30-jährigen Krieg gesungen hatte, als Hunger und Pestilenz in Europa wüteten.
Leben unter dem Kreuz. Gott vergiss uns nicht. Wir sind nur sterbliche Menschen. Heute hier und morgen längst vergessen. „Jesus denke an mich, wenn Du in dein Reich einziehst!“, sagte ein Verbrecher, der neben Christus gekreuzigt wurde. „Wahrlich ich sage Dir, noch heute wirst Du mit mir im Paradies sein!“ So die Antwort des sterbenden Gottessohns.
1991 irgendwo in der Altstadt Quitos. Vor dem Fenster unseres Hotels war es noch finster. Draußen auf der Straße pilgerten katholischen Christen zu einem Berg hinauf. Dort stand ein Kreuz. „Gott erbarme Dich!“, riefen sie. Und meine Frau und ich in unseren warmen Betten wussten, dass sie recht hatten. Ohne Gottes Erbarmen wären wir alle für allezeit verloren. /KDJ