Blick in die Ferne

Ich sitze am Schreibtisch neben dem Endoskopieraum. Mein Bericht über die erste Magenspiegelung ist geschrieben und meine nächste Patientin wird gerade von Krankenschwester Claudia Nickel auf ihre Untersuchung vorbereitet. Mir bleiben einige Minuten zum Nachdenken.

Mein Blick streift über das Dach des Spitals in die Ferne. Eisbedeckte Fünftausender funkeln im Sonnenlicht. Die Bergwelt um Curahuasi ist wirklich spektakulär. Die Natur atemberaubend schön. Ein Gefühl der Ehrfurcht macht sich in mir bemerkbar. Ist es nicht so, dass viele Menschen Gott in der Natur suchen? Ohne Zweifel weckt der Anblick dieser gewaltigen Gletscher Gedanken an die Ewigkeit. Es ist fast 20 Jahre her, da sagte mir ein jüdischer Gelehrter in Johannesburg, dass Schönheit und Musik Indizien für die Existenz Gottes wären. Professor Segal hatte Recht. 

Aber die Berge sind fern, sie werden nicht in mein Leben eingreifen. Sie können nicht trösten, wenn mich Schicksalschläge treffen sollten. Sie bleiben stumm, wenn ich nach Antworten schreie und nicht weiß, was Morgen sein wird.

Gott in der Natur bleibt eine unpersönliche Größe. Ich erkenne höchsten wie unendlich klein ich bin. War es nicht der griechische Philosoph Platon, der vor langer Zeit sagte, wenn es Gott gäbe, dann müsste er einen Boten zu uns senden und sich uns mitteilen?

Neben den weißen Gipfeln entdecke ich nun das Kreuz auf unserer Krankenhauskirche. Ich weiß natürlich, für was es steht. Gott hat diesen Boten zu uns gesandt. Er wurde persönlich. Er machte sich klein. Er litt mit uns. Er versteht uns total.

Die amerikanische Sängerin Joan Osborne formulierte es vor 18 Jahren in ihrem Welthit "One of us" folgendermaßen: What if God was one of us? Just a slob like one of us. Just a stranger on the bus. Trying to make his way home.- Was wäre, wenn Gott einer von uns wäre. Ein Tölpel wie wir. Wie ein Fremder im Bus, auf dem Weg nach Hause.

Jesus ging diesen Weg in unser Elend. Deshalb verleiht mir das Kreuz Christi den Lebensmut, den mir die majestätischen Berge niemals geben könnten. /KDJ

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