Wer ist die Frau am Mikrofon?

Blick in eine Familien-Saga

Von Montag bis Freitag moderiert Rebecca Müller eine Rundfunksendung für Jugendliche. Der Titel “zonalibre” (Freiraum) entspricht dem Lebensgefühl der jungen Generation. Der Ruf nach Freiheit ist ein Urwunsch der Menschheit. Wir alle wollen ohne Unterdrückung und ohne Angst unser Leben entfalten.

Über die Antennentürme von Diospi Suyana dringt die Stimme der Ecuadorianerin in fünf peruanische Bundesstaaten. Wohl niemand der unzähligen Hörer kennt die spannenden Hintergründe ihrer Familie. Rebecca Müller, Mutter von vier hübschen Töchtern, verheiratet mit dem Orthopädie-Techniker Daniel Müller, kann eine faszinierende Geschichte erzählen.

Elba Cevallo fühlte die unbarmherzige Ausweglosigkeit. Ihr Mann hatte sie und ihre sechs Kinder verlassen. Ein Schicksal, das sich in Südamerika Tag für Tag tausendfach wiederholt. Die 32-jährige Ecuadorianerin packte ihre Kleinen und die wenigen Habseligkeiten, die sie besaß, bestieg einen Bus und machte sich auf in die Küstenstadt Guayaquil. Vielleicht könnte sie in dieser Metropole Arbeit finden. Das Gehalt würde für sie als ungelernte Frau vom Lande nicht üppig ausfallen, aber vielleicht gerade hoch genug sein, um ihr und ihren Sprösslingen ein Überleben zu ermöglichen. Irgendwo im Slum kam sie mit ihrem Nachwuchs unter. Doch ihre Hoffnungen auf eine Beschäftigung zum Gelderwerb, erfüllten sich nicht. Im brutalen Kampf ums Täglich Brot war sie auf sich alleine angewiesen. Kein Sozialamt griff ihr unter die Arme. Kein reicher Onkel tauchte auf, um sie aus dem Sumpf zu befreien, in dem sie zu versinken drohte. Nun war sie am Ende der Fahnenstange angelangt.

Rebecca Müller moderiert ihre Radiosendung.
Ihre Oma: Elba Cevallos lebt in Guayaquil, Ecuador. Hier an ihrem 90. Geburtstag

„Mama, wo gehen wir hin?“ Die Kinder blickten fragend zu ihr auf. Elba schwieg. Nur ihre feuchten Augen und der zugekniffene Mund gaben eine ungewisse Antwort. Der Gang durch die Stadt endete auf einer belebten Brücke. Die Kinderschar, fünf Mädchen und ein Junge, wussten nicht, warum ihre Mama sie zu jener Stelle geführt hatte. Keiner hatte ihnen jemals erklärt, was ein kollektiver Selbstmord bedeutet. Sie waren noch viel zu klein, um zu verstehen, was eine menschliche Tragödie ist. Das Gesicht Elbas nahm eine aschfahle Farbe an. Sie und die Kinder schauten über die Brüstung in die Tiefe. Ein Schauder überkam sie alle. „Mama, was ist mir Dir? Lass uns von hier weggehen!“ Kein Wort drang über Elbas Lippen. Jetzt musste sie sich nur noch einen Ruck geben und mit beiden Armen sechs kleine Kinderhände fest an sich pressen. Der Mut der Verzweiflung würde ihr helfen sich und ihre Lieben nach unten zu werfen. Noch ein letzter Moment, dann der Sturz ins Dunkel und sie wäre endlich den quälenden Kummer los.

„Spring jetzt endlich“, eine innere Stimme gab die tödliche Anweisung. „Deshalb bist du hier. Mach endlich Schluss!“ Elba schaute auf die sechs kleinen Gestalten neben ihr. Ein Kindergesicht goldiger als das andere. Vielleicht war es der Mutterinstinkt, der in diesem schicksalhaften Augenblick die Oberhand behielt oder die vage Hoffnung auf ein Wunder. Ohne eine nähere Erklärung verließ die verzweifelte Frau den Ort des möglichen Grauens und ging ziellos mit ihren Kindern in einen nahen Park.

zonalibre: Freizone. Das Logo zur Sendung von Rebecca Müller

Da hörte Elba plötzlich ein Kirchenlied. Unwillkürlich blickte sie nach links auf eine Gruppe von Menschen. Was machten die da? Elba wusste nicht, was eine Straßenevangelisation ist. Der Gesang verstummte und ein junger Mann ergriff das Wort. „Wenn Du nicht mehr ein noch ausweist“, sagte er mit ruhiger Stimme, „dann rufe zu Gott in deiner Not. Es gibt keine andere Lösung. Noch nicht einmal ein Selbstmord kann dir helfen!“

„Elba war fassungslos, wie konnte es sein, dass dieser Unbekannte ihr Schicksal kannte? Der Straßenevangelist hatte Elba aber gar nicht im Sinn. Er predigte zur kleinen Zuhörerschaft nur das, was ihm gerade in den Sinn kam. Langsam näherte sich Elba – mit den Kindern im Schlepptau – dieser religiösen Veranstaltung, die bei den meisten Europäern nur ein abschätziges Lächeln hervorgerufen hätte. Gott, gab es ihn überhaupt? Elba war verwirrt, aber ein Fünkchen Hoffnung keimte auf. „Ob dieser Gott sich für eine hoffnungslose Mutter mit sechs Kindern interessierte?

Das eben beschriebene Drama hat sich im Jahr 1962 tatsächlich so abgespielt. An jenem Nachmittag ergriff Elba die Hand Gottes. Vielleicht wenden sie jetzt ein, dass so ein frommes Erlebnis, das Christen Bekehrung nennen, die Lebensumstände nur oberflächlich ändern könne? Religion mag für manche als Droge dienen, ihr Elend für einen Moment zu vergessen. Aber von einem Augenblick zum nächsten, werden sich die Schmerzen und der Hunger umso heftiger zurückmelden.

Die junge Ecuadorianerin fühlte sich tatsächlich von der Liebe Gottes eingehüllt. Sie machte die Erfahrung, dass Gott ein Vater der Witwen und Waisen ist. Was die Familie versorgte waren keine sentimentalen religiösen Gefühle, sondern handfeste Ergebnisse. Die Suppe auf dem Tisch, die Schulausbildung für die Kinder und ein Dach über dem Kopf. Gott erhörte ihre Gebete, praktisch und real. Wie gut, dass sie nicht ihre Kinder in die Tiefe gerissen hatte.

Elba gründete eine Kirchengemeinde in Guayaquil, die heute 200 aktive Mitglieder hat. Ihre Kinder wurden alle überzeugte Christen. Sie leben in Ecuador und in Italien. Und eine ihrer 16 Enkelkinder, Rebecca nämlich, arbeitet im Medienzentrum von Diospi Suyana in Peru mit. Sie säße nicht Tag für Tag in einem unserer Radiostudios, wenn ihre Oma damals gesprungen wäre. /KDJ (Auszug aus dem Buch: Auf dem Wasser laufen)

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