Vera Garçon und ihre erstaunliche Geschichte

Ist sie Französin, Hugenottin oder Idealistin?

1661 war für alle protestantischen Christen Frankreichs ein bitteres Jahr. Die Verfolgungen, die unter Ludwig dem XIV. einsetzten, radierten fast alle evangelischen Gemeinden in Kürze aus. Eine Viertelmillion Hugenotten, wie man sie nannte, flohen in andere europäische Länder. Nicht wenige der Flüchtlinge fanden eine neue Heimat und garantierte Glaubensfreiheit in deutschen Landen. Unter diesen Hunderttausenden von Migranten zogen auch die Vorfahren von Vera Garçon in den langen Trecks aus dem Westen in Richtung Osten. Das ist alles lange her. Aber Vera sieht nach Meinung vieler, selbst nach einer Familiensaga von rund 15 Generationen in der Bundesrepublik, noch aus wie eine Französin. Die Medizinstudentin aus Heidelberg ist dort, wo sie hinwollte. Von einem Einsatz am Krankenhaus Diospi Suyana hat sie lange geträumt. Auf diese Famulatur hat sie hingearbeitet. Und allen Widrigkeiten zum Trotz verlor sie dabei nie die Hoffnung.

Vera beschreibt sich selbst als eine lebensfrohe Person. In ihrer Bewerbung steht der folgende Absatz: „Ich tanze für mein Leben gern, regelmäßig Ballett und Modern Dance, aber auch Standardtänze und Tango Argentino. Ich habe große Freude am Singen und Klavierspielen. So singe ich in einem Medizinerchor, der einmal im Semester gemeinsam mit unserem Orchester ein Benefizkonzert für medizinische Organisationen auf der ganzen Welt organisiert…!“

Vera Garçon erblickt am 1. August 1996 in Bitburg unweit der französischen Grenze das Licht der Welt. Schon in ihren frühesten Kindheitserinnerungen spielt das Gebet eine wichtige Rolle. „Ich wusste immer, dass es Gott gibt. Ich spürte seine Liebe und habe mich ihm einfach anvertraut!“, sagt sie voller Begeisterung. Wie dieses Verhältnis zu Gott genau entstanden ist, weiß sie nicht. Ihre Eltern hatten mit der Kirche nicht viel am Hut. Die Großeltern nahmen sie zwar gelegentlich in katholische Gottesdienste mit, aber dort vibrierte kein Leben, sondern nur tote Religiosität. Aber interessanterweise waren es ihre Religionslehrer, die sie ermutigten, ihren Glauben als Christin zu leben.

Frühjahr 2019. Vera träumt des nachts von einer Kirche am Meer. Sie ist sehr groß und sieht völlig anders aus, als alle Kirchen, die sie je in ihrem Leben zu Gesicht bekommen hat. Die Sonne scheint und ein Gefühl von Frieden und Freude erfüllt sie. Fast ein halbes Jahr später zeigt ihr eine Freundin während eines Badeausflugs eine Ausgabe der Times. Die Titelstory handelt von der „Sagrada Familia“, dem epochalen Kunstwerk von Antoni Gaudí. Vera ist wie elektrisiert. Die Kirche in Barcelona ist die gleiche aus ihrem Traum. Wird sie dieses Meisterwerk vielleicht einmal von innen bestaunen können. Vera ist nachdenklich. Was hat das alles nur zu bedeuten?

Vera in einem OP in Heidelberg

Die Medizinstudentin mit dem Einser-Abitur macht im Dezember 2019 eine große Zweifelphase durch. „Warum studiere ich eigentlich Medizin?“, fragt sie sich desillusioniert. Sie befürchtet, dass der Krankenhausalltag mehr mit Wirtschaftlichkeit und Karriere zu tun hat als mit Menschlichkeit und Hingabe. Was sie hört und sieht sind Machtspiele und Konkurrenzdenken. Die harte Wirklichkeit scheint mit einem Mal ihr ursprüngliches Bild von praktizierter Nächstenliebe zu vernebeln.

An einem Abend im Dezember 2019 betet sie: „Gott zeige mir den Weg in meine Zukunft!“ Am nächsten Tag erzählt ihr ein Freund zum ersten Mal von Diospi Suyana. „Das ist der Ort, den Du suchst!“, sagt er und verweist auf die Webseite: www.diospi-suyana.org. Veras Augen werden immer größter je tiefer sie sich in die Geschichte von Diospi Suyana einliest.

Am 9. Januar 2020 halten Missionsarzt Dr. Werner Kessler und seine Frau Sonja in ihrer Heidelberger Kirchengemeinde einen Vortrag. Thema: Diospi Suyana. Vera ist erneut gepackt. Da muss sie hin, aber wie? Sie spricht kein Spanisch und der weltweite Corona-Lockdown setzt gerade ein. Grenzen werden dicht gemacht und die Flughäfen konvertieren in Windeseile in einsame Hallen. Dr. Kessler spricht bevor sie nach dem Gottesdienst auseinandergehen noch ein Gebet mit ihr. Er strahlt die Sicherheit aus, dass bei Gott kein Ding unmöglich ist.

Zwei Tag später liegt Vera abends im Bett. Die Stipendiatin der Studienstiftung des Deutschen Volkes grübelt über ihre geringen Chancen nach jemals bei Diospi Suyana zu landen. Da steht sie noch einmal auf und geht an den Schreibtisch. Sie loggt sich auf der Webseite der Studienstiftung ein und sucht nach einem Sprachkurs. Eigentlich ist die Bewerbungsfrist vorbei. Wow, sie findet noch einen einzigen Platz in einem spanischen Sprachkurs. Er wird in Barcelona angeboten. Vera ist sprachlos. Sie bewirbt sich sofort. Am Morgen erhält sie die Zusage.

Während der drei Wochen in Barcelona büffelt sie fleißig Spanisch und erhält am Ende ein Zertifikat ausgehändigt, dass ihr ein Sprachniveau von A1 bescheinigt. Und natürlich ergreift sie die Gelegenheit beim Schopf und fährt zur Sagrada Familia. Sie geht staunend durch das gewaltige Kirchenschiff. Weist diese architektonische Schönheit nicht Christen und Nichtchristen gleichermaßen auf den Schöpfer dieser Welt hin? Ihr Traum, der Badeausflug, ihre eigene Reise mit Gott finden an dieser Stelle ihre Erfüllung. Doch nur als Zwischenstation.

Vera in der Sagrada Familia im Februar 2020

Wieder zurück in Deutschland schickt sie elektronisch ihre Unterlagen an das Heimatbüro von Diospi Suyana. Doch leider hört sie nun, dass ein B1-Level für einen Einsatz am Missionsspital unabdingbar ist. Vera macht keine halben Sachen und mit einer Bestimmtheit ohnegleichen spricht sie in den Hörer: „B1 werde ich schaffen, koste es, was es wolle!“. Karin Straßheim von Diospi Suyana ist beeindruckt. Wann hat sie das letzte Mal so eine tiefe Überzeugung und Willensstärke gesehen.

Noch bleiben zehn Monate des Jahres 2020. Anfang 2021 will sie – so ihr Plan – in Peru am Hospitals Diospi Suyana tätig werden. Ihr Studium verlangt ihr viel ab. Ihre Doktorarbeit verschlingt eine Menge Zeit und parallel zu diesen Mammutaufgaben lernt sie Spanisch. Sie schafft bis zur Ausreise im Frühjahr 2021 etwas, was die wenigsten unter solchen Bedingungen erreicht hätten, sogar B2.

Garçon wäre aufgrund ihrer mentalen Stärke die ideale Hürdenläuferin. Denn bis zum Einstieg ins Flugzeug muss sie eine Schwierigkeit nach der anderen überwinden.

Im Januar 21 werden alle Flüge von Europäern nach Peru ausgesetzt. Aber trotzdem kauft sie ein Ticket für eine Flugverbindung über Sao Paulo nach Lima. Im März werden Reisen nach Peru wieder möglich, aber nicht über das Variantengebiet Brasilien. Es bleibt für Vera eine Zitterpartie bis zum Schluss. Aber bei jedem Rückschlag wendet sie sich an Gott und betet. Es sind keine monotonen Gebete aus Langeweile oder Gewohnheit, sondern flehentliche Bitten an eine unsichtbare Macht, die so oft in ihrem Leben sichtbar gehandelt hat.

Während ich am Schreibtisch meine Notizen mache, sitzt Vera neben mir. Ihre innere Begeisterung über einen Gott, der lebt und unser Dasein mit Sinn und Hoffnung füllt, blitzt aus ihren Augen. „Ohne Gott, würde ich mich fragen, für was ich eigentlich hier lebe“, sprudelt es aus ihr heraus, „Er bedeutet mir alles!“

Ich lege meinen Kugelschreiber aus der Hand und antworte unwillkürlich. “Mir geht es genauso wie Dir!“ /KDJ

Vera (links) in der Notaufnahme des Spitals Diospi Suyana. Rechts spricht Dr. Martina John mit zwei Angehörigen. Sie ist sicherlich nicht die schlechteste Ausbilderin.
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