Revolution

Die Wahrheit im kleinen Fenster

Die Worte der Bergpredigt sind allgemein so bekannt, dass viele ihren revolutionären Klang gar nicht mehr bemerken. …

…Haben Sie etwas von der Orangenen Revolution in der Ukraine im Jahr 2004 mitbekommen? Ich möchte Ihnen eine wenig bekannte Geschichte erzählen von den merkwürdigen Helden, die diese Revolution mit in Gang gebracht haben. Wie andere Teile der ehemaligen Sowjetunion hat auch die Ukraine den Weg zur Demokratie eingeschlagen, als das sowjetische Riesenreich zerfiel. Freilich kam die Demokratie in der Ukraine nur im Schneckentempo voran. Wenn Sie unsere Wahlkämpfe für schmutzig und unfair halten, dann bedenken Sie, dass der ukrainische Reformer Viktor Juschtschenko beinahe an einer mysteriösen Dioxinvergiftung gestorben wäre, als er es wagte, das etablierte Regime herauszufordern. Entgegen allem Rat blieb Juschtschenko, geschwächt und das Gesicht dauerhaft verunstaltet, im Rennen. Am Wahltag sahen ihn alle Prognosen mit 10 Prozent Vorsprung in Führung, die Regierung konnte das Ergebnis nur durch offenen Betrug noch drehen.

Das staatliche Fernsehen verkündete: “Meine Damen und Herren, der Herausforderer Viktor Juschtschenko ist deutlich geschlagen!” Der Regierungsapparat hatte freilich eine Kleinigkeit nicht bedacht, das Angebot des ukrainischen Fernsehens für die Gehörlosen. In einem kleinen Fenster, das in der rechten unteren Ecke des Fernsehbildes eingeblendet war, verbreitete eine mutige Frau namens Natalia Dimitruk in Gebärdensprache eine ganz andere Botschaft: “Ich wende mich an alle gehörlosen Bürger der Ukraine. Glauben Sie nicht, was sie (=die Behörden) Ihnen erzählen. Sie lügen, und ich schäme mich, diese Lügen zu übersetzen. Juschtschenko ist unser Präsident!”

Hörbehinderte haben, inspiriert durch die Gebärdensprachlerin Natalie Dimitruk, die Orangene Revolution angeführt. Sie informierten ihre Freunde per SMS über die gefälschten Wahlergebnisse, und bald ließen sich auch Journalisten vom offenen Ungehorsam Natalia Dimitruks anstecken und weigerten sich ebenfalls, die Lesart der Regierungspartai zu melden. In den Wochen darauf zogen Millionen Menschen in Orange in die ukrainische Hauptstadt Kiew und forderten eine Wiederholung der Wahl. Die Regierung musste dem Druck schließlich nachgeben und setzte erneut Wahlen an, aus denen Juschtschenko als unumstrittener Sieger hervorging.

Als ich diese Hintergrundgeschichte zur Orangenen Revolution hörte, ist mir die Vorstellung von dem kleinen eingeblendeten Fenster der Wahrheit in der Ecke des großen Bildschirms zum Gleichnis für die Kirche geworden. Sehen Sie, wir  in der Kirche kontrollieren nicht den großen Bildschirm. (Wenn wir es doch mal tun, dann vermasseln wir es gewöhnlich.) Gehen Sie zu einem beliebigen Zeitschriftenregal oder schalten Sie den Fernseher an, und Sie werden eine einheitliche Botschaft vorfinden: Was zählt ist, wie schön Sie sind, wie viel Geld oder Macht Sie haben. Aufgedonnerte Supermodels und gut gebaute Kerle zieren die Titelblätter der Zeitschriften, obwohl nur ganz wenige Menschen so aussehen. Die Eltern unter Ihnen wissen, was für eine verheerende Wirkung derartige Großbildschirm-Botschaften auf einen in diesen Kategorien unattraktiven Teenager haben können.

Ähnlich sieht es mit den Armen aus, die einen stattlichen Teil der Weltbevölkerung ausmachen. Sie schaffen es selten auf die Titelseiten oder in die Nachrichtensendungen. Stattdessen konzentrieren wir uns auf die Superreichen, auf die Leute wie Bill Gates oder Oprah Winfrey. Eine bezeichnende Tatsache mag das Symbol für unsere Starkultur sein: Der Basketballprofi Kevin Garnett, fraglos ein begnadeter Künstler, wenn es darum geht, einen Ball durch einen Stahlring zu bugsieren, verdient in einem Jahr mehr als alle Senatoren der Vereinigten Staaten zusammen. Was für eine Gesellschaft schätzt die athletischen Fähigkeiten eines Einzelnen höher als die Arbeit ihrer hundert wichtigsten Politiker?

Unsere Gesellschaft ist noch nicht einmal einmalig. Durch alle Zeiten hindurch haben die Völker stets die Gewinner gefeiert, nicht die Verlierer. Aber dann kam wie ein Gebärdensprachler in der rechten unteren Ecke des Bildschirms ein Mann namens Jesus und signalisierte gewissermaßen: Glaubt denen auf dem großen Bildschirm nicht – sie lügen. Selig sind nicht die Reichen, sondern die Armen. Trauernde sind ebenfalls selig, genau wie die Hungrigen und Durstigen und die Verfolgten, die ihr Schicksal tragen. Wer sich einbildet, ganz oben zu sein, wird sich ganz unten wiederfinden. Und die, die mit dem Gefühl durchs Leben gehen, dass sie am Boden sind, werden ganz oben landen. Denn was gewinnt ein Mensch, wenn ihm die ganze Welt zufällt, er selbst aber dabei Schaden nimmt?

Wer die Worte Jesu in die Praxis umsetzt, der gewinnt nach seiner Aussage ein felsenfestes Fundament für sein Leben. Wir führen unser Dasein in einer verbogenen Gesellschaft, die uns pausenlos mit der Botschaft bombardiert, das unser Wert von unserer äußeren Erscheinung oder vom Einkommen oder vom Zugang zur Macht abhängt. Jesus fordert uns auf, die Welt mit den Augen Gottes zu betrachten und zu erkennen, dass Gott vermutlich mehr Aufmerksamkeit auf die Ereignisse in Darfur und Haiti richtet als auf die Wall Street, dass Gott mehr Interesse an dem Problemviertel Memphis 38138 als am noblen Beverly Hills 90210 hat. Das Rezept für die Gesundheit eines Einzelnen oder einer ganzen Gesellschaft ist nicht auf dem großen Bildschirm, sondern im kleinen Fenster zu finden.

(Aus Spuren der Gnade von Philip Yancey)

Click to access the login or register cheese