Dr. Benjamin Zeier kämpft sich von der Theorie in die Praxis
Urologe und Notfallmediziner Dr. Zeier schreibt Bücher, die rund 300 Gramm wiegen aber zentnerschwere Wahrheiten enthalten. Vor 2000 Jahren sagte ein Wanderprediger Worte, die in dieser Form so noch niemand geäußert hatte: „Liebet Eure Feinde. Segnet, die Euch fluchen. Und tut wohl denen, die Euch hassen!“

In seinem neuesten Buch „Weiter als gedacht“, schreibt der Missionsarzt über ein Beispiel, das in den letzten Jahren unsere Mission bis an den Rand des Erträglichen gebracht hatte.
Das Buch hat 192 Seiten und kann auf der folgenden Webseite bestellt werden: www.missionsarzt.de/shop
Akuter Notfall und fahrlässige Tötung
5. Juli 2022. Weit nach Mitternacht. Unruhig schlief ich im Dienstzimmer unseres Hospitals. Mein Telefon klingelte. Am Apparat die Pflegekraft aus der Notaufnahme. Ein älterer Herr war von seinem Sohn gebracht worden. Die Untersuchungen ergaben Unglaubliches. Als sie mir die Werte für Blutdruck, Temperatur und Blutzucker durchgab, dachte ich zuerst, es sei ein Messfehler. Verschlafen raunte ich ins Telefon, dass das nicht sein könne. Mit diesen Werten könnte man doch nicht mehr leben. Ihr Antwort ließ mich hellwach werden. „Das ist richtig. Er ist ja auch bewusstlos.“
Ich riss die Tür auf und rannte in die Notaufnahme. Kurze Anweisungen. Dann stach ich ihm eine Infusionsnadel in den Arm. Sekunden später drückte ich eine volle Spritze Glukose in die Vene und hängte eine weitere Infusion an. Es dauerte nur Minuten, bis der Patient stabilisiert war. Er wachte langsam auf.
Ich stand am Pflegestützpunkt und schrieb die Papiere für die stationäre Aufnahme. Unsere Krankenschwester hatte die Patientenakte aus dem Archiv geholt und sie auf den Tresen vor mir gelegt. Ich blätterte diese durch, um mir ein Bild von seinem Gesundheitszustand zu machen. Der Mann stammte aus unserem Ort und war schon öfters hier vorstellig geworden. Die letzten Befunde zeigten, dass er eine bösartige Erkrankung der Leber hatte. Diese würde ihm wohl demnächst das Leben kosten. Dann stolperte ich über einen Entlassungsbrief, der mich zornig machte.
Wenn meine Vermutung stimmte, war er derjenige, der seit Jahren für eine der größten Verleumdungskampagnen gegen unser Hospital sorgte. Wenig später bestätigte die diensthabende Stationsschwester meinen Verdacht. Ausgerechnet er. Hatte ich gerade einem das Leben gerettet, der es nach menschlichen Ermessen ganz sicher nicht verdient hätte?
28. August 2018. Franziscus, so hieß der Patient, genehmigte sich ein letztes Bier, bevor er auf die Straße schwankte. Der 78-Jährige hatte zwar keinen Führerschein, doch zu Fuß gehen, schien ihm keine Option. Mut hatte er sich genügend angetrunken, um das in die Jahre gekommene Auto seiner Familie zu führen. Es wird schon nichts passieren. Er drehte den Zündschlüssel um. Nicht das erste Mal. Und auch nicht das erste Mal, dass jeder wegschaute. Er war ja Franziscus. Die abendliche Sonne im Blick kam ihm plötzlich ein Schatten entgegen. Dann krachte es. Franziscus schlug mit dem Kopf gegen die Windschutzscheibe. Das Taxis hatte keine Chance. Franziscus war ihm auf der falschen Straßenseite entgegengekommen, was zu einem Frontalzusammenstoß führte. Innerhalb weniger Minuten wurden fünf Patienten ins Hospital Diospi Suyana eingeliefert. Airbags und Sicherheitsgurte verhinderten für zwei der Insassen Schlimmeres. Doch ein Mitfahrer hatte auf der Rückbank geschlafen. Abraham K. Ohne jeden Schutz war er beim Aufprall durch das Auto gewirbelt worden. Mit fatalen Folgen.
Um eine lange Behandlungsgeschichte kurz zu machen. Mehrere Notfall-OPs und 21 Blutkonserven später verstarb der Intensivpatient in Cusco. Wir hatten ihn noch lebend dorthin verlegt.
Was dann folgte, übertraf alles Denkbare. Diospi Suyana wurde mit einer beispiellosen Verleumdungskampagne überzogen. Angeführt von einem Zahnarzt des lokalen Gesundheitspostens. Ihnen ist unsere erfolgreiche Arbeit in Curahuasi seit Jahren ein Dorn im Auge. Befunde wurden verändert. Akten manipuliert. Die Familie des Täters hat bis heute bei der Polizei und in jeder Behörde ihre Finger im Spiel. Franziscus war einer von ihnen. Diesen Machenschaften schloss sich eine mehrjährige, juristische Auseinandersetzung an. Nicht, weil es Zweifel an der Unschuld von Diospi Suyana gab. Im Gegenteil. Schlicht deshalb, weil nicht nur die Politik, sondern auch das Justizwesen bis in die höchsten Instanzen korrupt sind. Nach unzähligen Revisionsverfahren wurde die Akte Abraham K. endgültig im August 2022 geschlossen. Sie endete mit dem Urteil, das von Anfang an jedem Gutachter und Staatsanwalt klar gewesen war. Es gab keine Behandlungsfehler bei Diospi Suyana. Abraham K. wurde fahrlässig getötet, und zwar von dem betrunkenen Franziscus.
Und genau dem hatte ich vor wenigen Minuten das Leben gerettet. Wenn es einer nicht verdient hatte, dann wohl er. Ich spürte diese Wut. Innerlich kochte ich, als ich zurück ins Bett kroch. Ausgerechnet der. Niemand hatte unserem Krankenhaus so massiv geschadet. So viel Schlimmes war in Folge seines Fehlverhaltens entstanden. Ich konnte nicht einschlafen. Diese Sache regte mich einfach auf. Wäre er doch einfach gestorben.
Fast drohte ich in Selbstmitleid abzuschweifen als sich ein Gedanke klar und deutlich meldete. „Nicht das, was passiert ist, ist das Schlimmste. Sondern das, was auf Franziscus wartet.“ Mir wurde augenblicklich klar, in welcher Hoffnungslosigkeit er verloren war. Ja, ich konnte es regelrecht spüren. Wenn Franziscus keine Vergebung für diese Tat bekam, würde es übel mit ihm enden.
Ich glaube, der Himmel ist real. Die Hölle auch. Es gibt für die größte Sünde Vergebung. Gleichzeitig brauche ich für die Kleinste Vergebung. Jesus hat den Preis für meine Fehler vor 2000 Jahren bezahlt. Er hat Hoffnung und neues Leben mit seinem Tod und Auferstehung in diese Welt gebracht. Nicht nur für mich. Auch für Franziscus. Dieser Gedanke änderte mein Verhalten schlagartig. Was, wenn ich nicht einem Totschläger das Leben gerettet hatte. Was, wenn ich einem Schuldigen die letzte Chance ermöglichen würde, Frieden zu finden?
Aus Selbstmitleid wurde Mitgefühl für Franziscus. Keine Frage. Er hatte diese Gnade nicht verdient. Ich auch nicht. Denn Gnade verdient man nicht. Als am folgenden Morgen mein Nachtdienst zu Ende ging, nutzt ich die Chance. In wenigen Minuten würde es mit der Sprechstunde weitergehen. Unser Team stand schon wieder vor der Tür und verloste Behandlungstickets. Viel Zeit blieb nicht. Marcos, unser Pastor war bereits in seinem Büro eingetroffen. Ich erzählte ihm davon, wem ich in der Nacht das Leben gerettet hatte. Ich teilte mein Herz mit ihm. Franziscus brauchte Vergebung für seine Schuld. Nur Gnade konnte das wiederherstellen, was zerstört worden war.
Während meine Arbeit weiter ging, nahm sich Marcos Zeit für Franziscus. An diesem Morgen passierte das größere Wunder. Ein verlorener Sohn fand nach Hause und mir hatte Gott in der Nacht auf neue Weise gezeigt, wie sein Herz schlägt.
Wenige Tage später erfuhr ich, das Franziscus gestorben war. Meine Vorahnung, dass sein Leben nur noch an einem seidenen Faden hing, hatte sich bestätigt. Mich erleichterte das Wissen, dass ich in jener Nacht nicht nur medizinisch richtig gehandelt hatte. Es war seine letzte Chance. Möglicherweise werde ich eines Tages Franziscus wieder sehen. Nicht als Schuldigen, sondern als Begnadeten. Mir wird es dann genauso gehen.
Gott ist so wunderbar!! Danke für diese Geschichte und Gottes Segen für dieses Buch und eure ganze Arbeit!!