Eine kleine Hinterhofgemeinde in Berlin

 

Erinnerungen an China

Mein Navi leitet mich zielsicher in die Rigaer-Straße 86 in Berlin-Friedrichshain. Die Fassade leuchtet in allen Farben. Mehrere Häuser werden in diesem Viertel besetzt gehalten und just heute Nachmittag – so erfahre ich bald – soll eine Demo der linken autonomen Szene stattfinden. Drinnen werde ich um 17 Uhr einen Vortrag über Diospi Suyana halten. Aber wo denn bitte?

Nichts weist auf eine Gemeinde hin. Ich studiere die lange Klingelliste an der Tür. Aha, tatsächlich steht neben einem Knopf der Name “Jakob Gemeinde”. Was wird mich drinnen erwarten?

Ich bin früh dran und ziehe mich in mein warmes Auto zurück. Die Lektüre von Philip Yancey über Erlebnisse auf seinen Reisen wird mir helfen zwei Stunden Wartezeit zu überbrücken. Das Kapitel führt mich nach China, wo Christen in geheimen Untergrundgemeinden ihren Glauben leben.

Kurz vor 17 Uhr ist die überschaubare Örtlichkeit im Hinterhof noch leer. Der englische Pastor Paul Clarson und die Küglers treffen die letzten Vorbereitungen. Das Ehepaar hat den Vortrag arrangiert, wollen sie doch ab 2018 bei Diospi Suyana als Hausmeister bzw. Krankenschwester mitarbeiten. – Nun beginnt der Run. Einer gibt dem anderen die Klinke in die Hand. Die 70 gestellten Stühle sind um 17:05 alle besetzt. Eine Begrüßung, zwei Lieder und dann der Vortrag.

Dieser Andrang von so vielen Menschen auf so engem Raum erinnert mich sofort an die Situation der kleinen Hausgemeinden in China. Von 1949 bis heute hat sich die chinesische Christenheit von etwa 4 Millionen auf rund 100 Millionen erhöht – trotz stärkster Repressionen seitens eines atheistischen Staatsapparates. /KDJ

In seinem Reisebericht beschreibt Philip Yancey ein Treffen mit Leitern der christlichen Untergrundbewegung in China…

“Bruder Shi kam ins Zimmer – oder besser gesagt: platzte herein. Bruder Shi hatte nichts von der Zurückhaltung der Dorfleute an sich, die ich kurz vorher kennengelernt hatte. Er war Rechtsanwalt, schlagfertig, klug, geistreich und vermutlich erfolgreich in allem, was er anpackte. Ich hätte sein Alter auf Ende zwanzig geschätzt, aber er informierte mich, er sei gerade 44 geworden.

Ich fragte Bruder Shi, ob er in einer christlichen Familie aufgewachsen sei. “Ganz im Gegenteil. Meine Eltern waren Atheisten. Ich habe die kommunistische Jugendliga meiner Provinz angeführt und war Mitglied der Roten Garden. Der Parteiführer baute mich als seinen Nachfolger auf. Auf dem Weg mit dem Fahrrad zum Büro musste ich immer an einer Drei-Selbst-Kirche vorbei. (Christliche Kirche, die in China anerkannt, aber auch kontrolliert wird.) Die Kirche war regelmäßig brechend voll mit Leuten, die sangen und sich austauschten. Das machte mich neugierig. Ich hatte die größte Mühe, auch nur einen zu finden, der freiwillig meine Jugendliga-Treffen besuchte. Wie konnte diese Kirche so viele Menschen anziehen, wo wir doch auf die Christen herabsahen?

Eines Tages stellte ich mein Fahrrad ab und ging in die Kirche, den Kopf gesenkt – ich wollte nicht auffallen. Was für ein Schock! Ich hatte gedacht, nur alte Leute und Tagediebe gehen in die Kirche. Stattdessen hörte ich, wie junge Leute kraftvoll von ihrem Erleben mit Gott Zeugnis gaben. Am Sonntag kam ich wieder, und einige erkannten mich. Ich sah, wie sie ihre Nachbarn auf mich aufmerksam machten. Sie dachten wohl, ich würde für die Partei spionieren.

Ich kaufte mir eine Bibel für acht Yuan, das entsprach für mich dem Verdienst von drei Tagen, und begann zu lesen. Das erste Buch Mose schaffte ich in der ersten Nacht; schlafen konnte ich nicht. Nach wenigen Tagen hatte ich die ganze Bigel gelesen.”

Ungläubig fragte ich (Philip Yancey) dazwischen “Alles? Das dritte, vierte, fünfte Buch Mose? Haben Sie etwas damit anfangen können?

“Ich habe jedes Wort gelesen, von der ersten bis zur letzten Seite, wie einen Roman. Natürlich habe ich vieles nicht verstanden. Aber was dort über die menschliche Natur stand, kam mir schlüssiger vor als das, was ich von den Kommunisten gehört hatte. Ich begann zu glauben. Ich war damals siebenundzwanzig, und eine Zeit lang tobte ein Kampf in mir. Mit meiner Karriere wäre es vorbei, wenn ich mich zum christlichen Glauben bekennen würde, das war mir klar. Schließlich konnte ich die Spannung nicht mehr aushalten. Ich ging zum Parteileiter und gab meinen Rücktritt bekannt. Er beschwor mich, zur Besinnung zu kommen, aber ich hatte meine Entscheidung getroffen. Als ich an diesem Abend nach Hause kam, stand mein Vater zornentbrannt in der Tür. Der Parteileiter hatte ihn angerufen. “Ich habe gegen die Christen unter Ching Kai-Shek gekämpft!”, schrie er. “Ich habe gegen die Christen in Korea gekämpft! Ich werde Jesus nicht in mein Haus lassen! Wenn du das wirklich willst, dann musst du gehen!” Er warf meine Habseligkeiten auf die Straße, und die nächsten sechs Wochen habe ich im Büro übernachtet. Wenn ich meinem Vater auf der Straße begegnete, wandte er sich demonstrativ ab.”

Bruder Shi erzählte mir eine Reihe haarsträubender Abenteuer, die der Aufnahme in die Apostelgeschichte würdig waren. Er reist von Dorf zu Dorf, um die Leiter der Hauskirchen auszubilden. Er ist ständig auf Achse, ständig die Staatssicherheit auf den Fersen, und viele Male ist er ihnen nur um Haaresbreite entwischt. Zwar hat Shi Frau und Kind, aber er kann seine Familie nur ein oder zweimal im Jahr sehen. Schließlich wurde auch Shis Vater Christ, nach einer wunderbaren Heilung seines Enkelsohnes.

In China gibt es gegenwärtig etwa tausend Bibelschulen und -seminare, und Bruder Shi versucht sie reihum zu besuchen. Auch er betrachtet eine gute theologische Ausbildung als die wichtigste Herausforderung der chinesischen Kirche. Ich fragte ihn: “Sie arbeiten mit zahlreichen Gemeindeleitern. Wenn Sie all die zugehörigen Kirchenmitglieder zusammen nehmen für wie viele Menschen sind Sie als eine Art Bischof der nicht registrierten Kirche zuständig?” Er dachte kurz nach und überschlug die Zahlen im Kopf. “Genau ist das schwer zu sagen. Meine beste Schätzung: 260.000.” Dabei benutzt Bruder Shi einen Decknamen, bekommt keine Anerkennung und tut seine ganze Arbeit im Verborgenen. Ich konnte es mir nicht verkneifen, sein Leben mit dem prominenter und gefeierter Evangelikaler in den USA zu vergleichen…”

70 Stühle stehen eng auf eng. Alle sind besetzt.
Pastor Paul Clarkson interviewt Matthias und Uta Kügler. Das Ehepaar will im Februar 2018 nach Peru ausreisen.
Die Lektüre für den Nachmittag. “Spuren der Gnade – Erlebnisse auf meinen Reisen” Ein Buch von Philip Yancey
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