A – eine Chronologie – Adrenalinspiegel am Anschlag

Sorge, Kummer, Angst

Peru im August 2017. Seit zwei Monaten befinden sich die Lehrer im Streik. 8 Millionen Schüler sind vom Lehrerausstand betroffen. In Lima versuchen militante Pädagogen gewaltsam in das Parlamentsgebäude einzudringen. Es fließt Blut und es gibt Verletzte. Die Stimmung im Land wird zusehends explosiv.

Es kommt noch schlimmer. Die Ärzte Perus beginnen einen unbefristeten Streik und schließlich verweigert auch das Justizwesen seine Arbeit.

Samstag, der 26. August. Der Polizeichef Apurimacs inspiziert das Gelände von Diospi Suyana. In meinem Büro spielen wir mehrere Krisenszenarien durch. Die Polizei weiß längst, dass gewaltbereite Lehrer den Besuch des Staatschefs für ihre politischen Zwecke missbrauchen wollen. Damit würde unser Jubiläum Opfer einer angespannten politischen Lage. Doch die Polizei möchte helfen. Das „Fest des Glaubens“ soll mit einem massiven Aufgebot von drei Hundertschaften gesichert werden.

Dienstag, der 29. August. Meine Frau Martina, Doris Manco vom Medienzentrum und ich treffen uns mit einigen Rädelsführern im katholischen Gemeindehaus. Unsere fünf Verhandlungspartner vertreten 420 Lehrer aus Curahuasi.

„Wir wollen einen Dankgottesdienst feiern und haben mit der Politik nichts zu tun“, beschwören wir. Die Lehrer bleiben distanziert. Sie betonen ihr Streikrecht und erwarten mehrere Tausend Genossen aus dem Süden des Landes. Damit wird unser Fest gesprengt. Während ich die Parolen der Streikführer über mich ergehen lasse, habe ich einen bitteren Geschmack im Mund. Längst habe ich verstanden, dass unsere Hände menschlich gesehen völlig gebunden sind. Wäre es nicht besser, unser Event abzusagen? Was für eine Enttäuschung. Waren alle Vorbereitungen der letzten Wochen umsonst? Was ist mit den Gästen, die bereits aus den USA, aus Deutschland und aus der Hauptstadt Lima angereist sind. Beklommen und frustriert verlassen wir drei die Räumlichkeiten an der Plaza de Armas.

Am Abend sitzen wir mit rund 40 Missionaren zusammen und suchen nach einer Lösung. Es gibt keine. Also bleibt nur die Zuflucht ins Gebet. Ab Mittwochmorgen 9 Uhr wollen wir in Kleingruppen 24 Stunden lang beten. Der Glaube muss in der Krise zeigen, ob er trägt. Was überwiegt eigentlich – unser Vertrauen auf Gott oder unsere Zweifel? Ich bin mir da mit einem Mal nicht mehr so sicher. Was soll ich auf der Webseite veröffentlichen? Am besten ich lege jedes Wort auf die Goldwaage.

Mittwoch, der 30. August. Der Regierungspalast schickt eine Abordnung von zehn Personen nach Curahuasi. Lange diskutieren wir über mögliche Gefahren. “Dr. Klaus, wie wollen sie verhindern, dass sich Streikende getarnt unter das Volk mischen und dann anfangen für Unruhe zu sorgen”, fragt mich der Sicherheitschef. “genau das ist vor einigen Tagen in Tacna passiert!” Weder ich noch die Militärs können diese Frage beantworten. Wenn Tumulte in Aussicht stehen, wird der Staatschef definitiv nicht kommen. Der Coronel der Polizei will das Krankenhaus mit drei Verteidigungsringen vor möglichen Demonstranten schützen. Am Morgen will er sogar die Überlandstraße zwischen Abancay und Cusco von seinen Leuten sperren lassen. Damit müssten hunderte von Autos stundenlang warten.

Im Laufe des Tages reisen die ersten Fernsehteams aus der Hauptstadt an. Vielleicht wäre es besser gewesen, sie wären in Lima geblieben.

Die Gebetskette. Von 23 Uhr bis Nulluhr sind meine Frau und ich an der Reihe. Wir beten und hoffen. Oder sollte man eher sagen, wir bangen in die Nacht hinein. Ich kann danach nicht einschlafen und wälze mich auf meinem Kissen hin und her. Ein bisschen Schlaf wäre jetzt gut. Aber wie?

Donnerstag, der 31. August. Das Zeltdach über dem geschmückten Amphitheater sieht wunderschön aus. Die Sonne scheint in Curahuasi. Alles ist bereit für 4.500 Gäste. Kurz nach 7 Uhr ruft mich Doris Manco an: Sie hat von der Polizei gehört, dass im Morgengrauen bereits 200 Lehrer aus Südperu – trotz der Polizeikontrollen – in Curahuasi eingetroffen sind.

Wenig später folgt der nächste ominöse Anruf. Matthias Besold meldet sich: „Die Lehrer stehen mit ihren Spruchbändern schon oberhalb des Amphitheaters“, sagt mir unser zukünftiger Verwaltungschef. „mit ihren Sprechchören machen sie einen ziemlichen Lärm!“

Mir ist sofort klar, dass sie von ihrer Position aus mit Leichtigkeit Steine in das Amphitheater werfen können. Unter diesen Bedingungen kann der peruanische Präsident unmöglich am Fest von Diospi Suyana teilnehmen.

Die Vorhut aus dem Palast ist besorgt. Sie stehen in ständiger Kommunikation mit Lima und der Polizei. Sie haben längst in Erfahrung gebracht, dass sich weitere Fahrzeuge mit Streikenden auf dem Weg nach Curahuasi befinden.

Minuten später stehen 15 Peruaner und ich im Medienzentrum im Kreis. Wir  fassen uns an den Händen und beten: „Gott, bitte greif ein!“

Der Polizei scheint die Kontrolle langsam zu entgleiten. Nun fahren drei Busse mit Polizisten die Straße zum Hospital hoch. Robuste Kerle in voller Kampfmontur steigen aus. Der Polizeigeneral Arévolo teilt mir mit, dass mittlerweile 550 Polizisten im Einsatz seien. An den Berghängen stehen sich an mehreren Stellen Streikende und bewaffnete Polizisten in langen Reihen gegenüber.

Am Eingang des Spitals. Wieder ist eine Polizeitruppe bereit für den Abmarsch.

„Wird der Präsident kommen?“, frage ich den Koordinationsleiter aus dem Palast. Er weiß es nicht und blickt düster in die Berge. In der Ferne sind die Sprechchöre der Streikenden unüberhörbar.

Die Polizei hat die Panamericana längst für den Verkehr geschlossen. Aber auf den Hügeln sieht man weitere Lehrer mit Spruchbändern im Anmarsch. Polizisten wohin man schaut, aber keine Gäste. Das Amphitheater ist leer. Sollte der Präsident wirklich mit den Ministern einfliegen, wäre alles eine einzige Farce.

Die Nervosität steht jedem ins Gesicht geschrieben. Warum habe ich eigentlich plötzlich einen so trockenen Mund? Ich pendele ruhelos über das Gelände. Wir haben keine Optionen. Es gibt keinen Plan B. Vielleicht wäre jetzt der richtige Zeitpunkt das Fest ganz abzublasen.

Im Eingangsbereich des Medienzentrums sehe ich um die 20 Mitarbeiter mit geschlossenen Augen. Doris Manco spricht stellvertretend für alle ein Gebet. Wenn außer Ratlosigkeit nichts mehr bleibt, bleibt nur noch der Schrei zum Himmel.

Polizeikontrollen auf den Zufahrtsstraßen. Dann drei Verteidigungsringe um das Hospital Diospi Suyana. Im Bild sichtbar Ring Nummer eins.

Dr. Jens Haßfeld, Chris Welch, Oebele de Haan und meine Frau und ich stehen gespannt oberhalb des Hubschrauberlandesplatzes. Ob an dieser Stelle am heutigen Tag wie geplant drei Hubschrauber landen werden? Zu diesem Zeitpunkt kann von einer geordneten Planung fast keine Rede mehr sein.

Unsere Augen werden plötzlich gereizt. Der Wind treibt das Tränengas der Polizei an unseren Standort. Auf den Hängen hat die Lage offensichtlich eskaliert.

Wir erhalten mehr und mehr Anrufe von Gästen. Sie stecken in langen Autokolonnen fest. Es gibt kein Durchkommen mehr. Jetzt können weder Streikende noch Festgäste zum Amphitheater. Ausnahmezustand. Es ist vorbei. Damit fällt unsere Großveranstaltung ins Wasser. Wir haben verloren.

Ich blicke in die übermüdeten Augen von Doris Manco. “Die Arbeit von Diospi Suyana wird weitergehen”, sage ich traurig, “auch ohne Fest!”/KDJ

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