Aufgeben kommt nicht in Frage

Eine 20-stündige Fahrt durch Peru mit Hindernissen

Alles war so schön geplant. Abfahrt vor 4 Uhr am Morgen in Curahuasi und Ankunft gegen 18 Uhr in Lima zur Abenddämmerung. Bevor ich den Motor zünde, spricht Verwaltungsleiter Steven de Jager ein Gebet. Amen. Ich trete auf’s Gas. Vier Stunden später ist erst einmal Schluss. Der Erdrutsch vor uns hat unangenehme Tatsachen geschaffen. “Am Nachmittag machen wir vielleicht eine Spur wieder auf”, meint ein Polizist an der Straßensperre, “wahrscheinlich aber doch erst morgen!”

“Gibt es eine Schotterpiste über die Berge?”, fragen wir Einheimische. “Nein”, antwortet eine Restaurantbesitzerin, “wollen Sie bei mir vielleicht einen Fisch essen?” Das Angebot klingt verführerisch, aber wir haben es eilig und drehen um. Steven und ich entscheiden uns eine andere Route durch die Anden zu wählen. Andahuaylas, Chincheros, Ayacucho… Leider wird sich die Fahrt dann um zwei oder drei Stunden verzögern.

Während einer kleinen Pinkelpause betrachte ich argwöhnisch das rechte Hinterrad. Die Reifen sind neu und haben ein Profil wie aus dem Katalog, aber trotzdem fehlt hier offensichtlich Luft. Anstatt nach Andahuaylas abzubiegen, fahren wir nach Abancay zurück und suchen einen Reifenhändler. Die meisten Geschäfte bleiben auch heute wegen Corona geschlossen. Wir tingeln uns von Adresse zu Adresse. Bei “El Trujillo” gelingt es uns einen lustlosen Mechaniker zu aktivieren. Das Wasserbad zeigt schnell das Corpus Delikti. Ein langer Nagel. Also Reifen runter, Flicken auf den Innenmantel, Reifen wieder drauf. Leider hat dieses Intermezzo eine weitere Stunde in Anspruch genommen.

Jetzt ist es 11 Uhr und wenn Google-Maps recht haben sollte, müssten wir noch über 1000 km fahren. Keine deutsche Autobahn mit Bleifuß, sondern Bergstraßen mit mehr Kurven als ein Abiturient zählen kann. Was soll’s, wir sind zu Zweit und haben eine Mission zu erfüllen.

Die Landschaft wunderschön. Der Verkehr so gut wie abwesend und eine angeregte Gesprächsatmosphäre im Auto. Der Streckenabschnitt Chincheros nach Ayacucho dauert zwei Stunden länger als geplant. An der Grenze zwischen den Bundesstaaten werden wir von Militärs interviewt. “Ihr schafft es noch zur Stadt Ayacucho, Lima werdet ihr erst morgen erreichen!” Der Soldat hat offensichtlich noch nichts von nordeuropäischer Hartnäckigkeit gehört. Ein Niederländer und ein Deutscher werfen so schnell nicht das Handtuch. Gegen 17 Uhr finden wir einen Weg durch Ayacucho und fahren weiter in Richtung Nordwesten.

“8 Stunden braucht ihr mindestens noch bis nach Lima”, sagt der Mann an einer Tankstelle. Unser Navi im Auto gibt die Ankunft mit halb drei in den Morgenstunden wieder. Aber Steven hat eine Thermoskanne Kaffee dabei und ich bin ein alter Bäckerbub. Natürlich versuchen wir unser Glück.

Die Straße führt Stunde um Stunde in die Höhe. Die Landschaft erinnert im Mondlicht an ein alpines Skigebiet und die Außentemperaturen fallen auf Null Grad. Irgendwo sprechen wir ein zweites Gebet. 600 km geschafft, aber noch 500 km vor uns. Die Zeit drängt. Fliegende Wechsel am Steuer.

An den Kontrollposten der Militärs zeigen wir unsere Dokumente mit den Unterschriften eines Polizeigenerals und eines Gouverneurs. Während des nationalen Notstandes ist dieses Schreiben so wertvoll wie reines Gold. “Wir kommen vom Krankenhaus Diospi Suyana in Curahuasi!” Selbst in den Nachbarbundesstaaten, die wir durchqueren, überzeugt diese Aussage jeden. “Gute Reise!” Alle Militärs sowie Polizisten geben sich heute ziemlich freundlich.

Im Schneckentempo kriechen wir über die Pässe. Nur keinen Unfall bauen. Nicht hier in der Einsamkeit bei winterlichen Temperaturen. Steven schwelgt von einem Abendessen im Gästehaus, das er in den Morgenstunden einnehmen will. Ich sehne mich eher nach einem warmen Bett.

Die Temperaturen steigen, als wir eine weitere Kordillere überwinden und talabwärts klettern. Pisco und die Küstenebene kommen näher. Obwohl der Zeiger auf 22 Uhr steht, gibt das Thermometer nun satte 23 Grad an. Noch zweieinhalb Stunden Autobahn nach Lima und das Menue, von dem Steven träumt, könnte sich tatsächlich bewahrheiten.

Nun sitze ich wieder am Steuer. Immer geradehaus. Eigentlich total einfach. Wäre da nur nicht die Müdigkeit und die Angst vor Gegenständen auf der Fahrbahn. Die Tachonadel klebt bei 100 km/h. Um ehrlich zu sein, sogar etwas darüber. “Was ist das?” Ich schrecke hoch. Der Hund im Lichtkegel der Scheinwerfer zählt nicht zu den berechtigten Benutzern der Schnellstraße. Ich reiße das Steuer nach links. Der Vierbeiner verschwindet im schwarzen rechten Seitenschatten. Steven und ich sind so hellwach wie noch nie zuvor.

“Das war ein guter Reflex von Dir”, meint der Niederländer anerkennend. Ich weiß, es handelte sich vielmehr um Gottes megamäßige Bewahrung.

Nur noch eine Stunde bis zur peruanischen Hauptstadt. Als wir gegen 1:30 Uhr das Gästehaus vor uns sehen, öffnet sich das Tor wie von Geisterhand. Robert Blas, der unsere Basisstation leitet, erwartet uns und hilft gleich beim Entladen. Auf dem Tisch stehen Schüsseln mit Nudeln, Kartoffeln und Hühnchen. Steven hat es richtig geahnt. Dafür haben sich die zwanzigeinhalb Stunden gelohnt. Guten Appetit!

Noch eine kleine News auf die Webseite, ein Dankgebet und dann ertönen aus zwei Zimmern tiefe Atemzüge. /KDJ

PS.: Die drei Beatmungsgeräte wurden gestern gegen 17 Uhr vom Zoll in Lima freigegeben. (Bild oben von der Facebookseite des Rathauses von Chalhuanca). Unser erster Covid-19 Patient konnte genesen nach Hause entlassen werden.

Der rechte Hinterreifen wird repariert und los geht es wieder. Der unverschämte Preis erklärt sich mit den gegenwärtigen Krisenseiten.
Landschaftlich reizvoll. Hinten ist irgendwann einmal die eine Fahrbahn abgebrochen. Deshalb wurde die Straße einfach als Dauerlösung auf eine Spur verengt.
Im Landesinneren. Die Dämmerung setzt bald ein.
Steven de Jager am Steuer. 640 km geschafft, aber noch rund 500 km vor uns.
Bei nacht über einen Pass. Null Grad Celsius. Der Mond scheint. Schneeflocken in der Luft.
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