Die Geschichte von Diospi Suyana

Herbst 1995

Es war eine stürmische Nacht. Der Wind heulte und wirbelte die Blätter durch die kalte Luft. Ich ließ meinen zwei Hunden freien Lauf und stapfte verdrossen über die Felder. Ich befand mich im letzten Jahr meiner chirurgischen Assistenzarztzeit und ein Ende meiner Ausbildung kam langsam in Sicht. Meine Frau Tina, eine Assistenzärztin der Kinderheilkunde, und ich hatten seit unserer Schulzeit von einem lebenslangen Einsatz in der 3. Welt geträumt. Es war also nur noch eine Frage der Zeit und wir würden uns an die Verwirklichung unserer Vision machen können. Ich vergrub meine Hände tief in den Seitentaschen meiner gefütterten Jacke. Mein innerer Gemütszustand entsprach der trostlosen Witterung um mich herum. Zwar hatte sich beruflich bei uns alles optimal entwickelt, aber seit fast einem Jahrzehnt hatte ich eine bohrende Frage nicht beantworten können, die Frage nach Gott. Als Mediziner war ich mit dem Tod vertraut. Besonders in Südafrika hatte ich viele meiner Patienten sterben sehen. Gab es für sie und für mich eine echte Hoffnung auf ein Leben danach? Waren die Worte Christi, die ich seit Kindheitstagen kannte, vertrauenswürdig oder nur ein ungewisser Trost? Meine innere Erregung steigerte sich und brach schließlich aus mir heraus. So laut ein Mensch schreien kann, schrie ich in die Dunkelheit der Nacht hinaus: „Gott wo bist Du? Ich will Dich sehen!“

 

Menschlich unmöglich

Die Sehnsucht nach einem persönlichen Gott sollte mich nie verlassen. Gerne las ich die Geschichten anderer, die von ihren Erfahrungen mit Gott berichteten. Aufmerksam beobachtete ich mein eigenes Leben. Tina und ich hatten den Facharzt in der Tasche. Unsere Ausbildung an Kliniken in England, den USA, Südafrika und Deutschland hatte unseren Horizont geweitet. Es war offensichtlich, dass eine höhere Macht uns von einer Wegkreuzung zur nächsten geleitet hatte. Mit einem Gottvertrauen so groß wie ein Senfkorn bewarben wir uns bei einer Missionsgesellschaft, um an einem Missionsspital in Ecuador zu arbeiten. Wir betonten, dass wir uns in erster Linie als Ärzte verstanden, die gewissermaßen zufällig auch Christen wären.

Die fünf Jahre am Hospital Vozandes del Oriente in Shell, Ecuador, prägten uns in jeder Hinsicht. Wir lernten die Organisation eines Missionskrankenhauses kennen, das permanent in den roten Zahlen steckte und mit teilweise antiquierten Gerätschaften vorlieb nehmen musste. Wir beobachteten zudem, dass ein verschuldetes Spital tendenziell mehr und mehr zu einer Einrichtung für Mittelklassepatienten wird. Doch jeder arme Indianer, der mit einem Seufzer des Bedauerns von der Spitalleitung weggeschickt wurde, löste bei uns ein inneres Rumoren aus. Tina und ich hatten keineswegs vor unser Leben zum Wohle der Reichen zu investieren. Unser Ruf galt den Indianern der Anden, deren Schicksal uns bereits auf einer früheren Reise nach Peru tief bewegt hatte.

Im Januar 2002 setzten wir uns an den Schreibtisch und verfassten in langen Nächten einen Entwurf für ein neues Krankenhaus. In diesem Spital sollten die Ärmsten den denkbar höchsten medizinischen Standard genießen können. Wir erkannten schnell, dass der Bau und die Ausstattung eines solchen Projektes viele Millionen Euro verschlingen würden. Vom langfristigen Unterhalt ganz zu schweigen. Wir postulierten einen Unterstützerkreis von 1.000 Freunden, die Mitarbeit von rund 30 ehrenamtlichen Helfern und die Bereitschaft vieler Firmen eine umfangreiche Hightech Ausstattung zu spenden.

Mit diesem Plan kehrten wir 2004 nach Deutschland zurück, um mitten in der damaligen Wirtschaftskrise für unser wahnwitziges Unternehmen zu werben. Monat für Monat fuhren wir die Autobahnen hoch und runter. Wo immer sich die Gelegenheit bot, packten wir Beamer und Laptop aus, um unser Herz sprechen zu lassen. Tina schrieb im gleichen Jahr etwa 1.000 handschriftliche Briefe. Doch trotz all unserer Mühe gingen bis Ende Juni nur 251 Spenden ein. Der Traum drohte in Bausch und Bogen zu scheitern. Aber wir warfen nicht das Handtuch, weil wir absolut überzeugt waren, dass dieses Krankenhaus mit Gottes Hilfe nicht nur entstehen könnte, sondern entstehen würde.

 

Gott greift ein

Diospi Suyana bedeutet in der Sprache der alten Inkas „Wir vertrauen auf Gott“. Und genau so sollte unser geplantes Krankenhaus auch heißen. Diese Bezeichnung war treffend gewählt, denn – wie wir bald feststellten –  knüpfte Gott im Hintergrund all die notwendigen Kontakte.

Wir hatten immer gehofft, einen Bauingenieur zu finden, der den Bau des Spitals für uns als Consulting Partner überwachen würde. Er sollte eine Menge Erfahrung besitzen und das Projekt ehrenamtlich begleiten. Unsere Suche nach so einer Person war leider erfolglos geblieben. Am 16. Februar 2005 saß ich mit einem Anwalt in unserer kleinen Dachwohnung im Wiesbadener Westend Viertel um uns auf die anstehenden Verhandlungen mit der Baugesellschaft Contructec vorzubereiten. Immerhin hatte der Bauvertrag ein Volumen von fast 4 Millionen USD wohlgemerkt ohne Ausstattung. Plötzlich bemerkte der Anwalt, dass er jemanden kenne, der für Philip Holzmann viele Jahre im Ausland gearbeitet hätte. Mein Interesse war geweckt. „Wie heißt denn dieser Mann?“ Meine Frage wurde sogleich beantwortet: „Udo Klemenz“. Da der Anwalt die Telefonnummer jenes Bauingenieurs in den Tiefen seiner Aktentasche fand, rief ich sofort bei ihm zu Hause an. „Herr Klemenz, ich habe vor zwei Minuten von Ihnen gehört, wir sind Ärzte, die ein Missionskrankenhaus in Peru errichten möchten. Könnten Sie sich vorstellen, dieses Vorhaben umsonst zu leiten?“ Wir vereinbarten für den gleichen Abend ein Treffen in seinem Haus in Solms. – Was ich nicht wusste war, dass Udo Klemenz und seine Frau Barbara seit drei Tagen um einen besonderen Auftrag Gottes gebetet hatten. Die beiden reisten im August 2005 mit unserer Familie nach Peru. Udo Klemenz überwachte als Ingenieur den Bau des Spitals, die Konstruktion einer Dentalklinik und die Errichtung eines Kinderhauses. Als Krönung seines Schaffens baute er die Diospi-Suyana-Schule, die seit fünf Jahren unzähligen Indianerkindern eine hervorragende Ausbildung ermöglicht.

Die Bauarbeiten des Spitals gingen ohne garantiertes Budget, ohne Schulden und Kredite stetig voran. Finanziell lebten wir permanent von der Hand in den Mund. Doch zu einem Baustopp kam es nie, da im rechten Augenblick, der oft der letzte war, überraschend die benötigten Spenden eintrudelten.

Mühsam blieb der Baubetrieb trotzdem. Es gab keine zuverlässige Internetverbindung, keine Handys und nur neun Münztelefone im Ort, die eher schlecht als recht funktionierten. Auch Hiobsnachrichten mussten wir verkraften. Am 17. Dezember 2005 nahm mir der Zoll am Flughafen Limas meinen Beamer weg, da ich es versäumt hatte das Gerät auf einem Formular anzumelden. Einige hochrangige Persönlichkeiten, allen voran der deutsche Botschafter, bemühten sich vergeblich um die Freigabe des Projektors. Der Frust darüber saß bei mir tief. – Mir blieb nichts anderes übrig als einen neuen Beamer in Lima zu kaufen. Am 10. Februar 2006 testete ich im Verkaufsraum einer kleinen Firma drei verschiedene Modelle. Ich tat dies, indem ich schnell alle Folien meines Vortrags über Diospi Suyana auf einer Leinwand projizierte. Unerkannt stand hinter mir in einer Ecke der Präsident des Telekommunikationsunternehmens „Impsat-Peru“. Die Bilder packten ihn und er suchte umgehend das Gespräch mit mir. Als Ergebnis spendete sein Unternehmen eine Satellitenschüssel, die uns seit dem Frühjahr 2006 über Telefon- und Internetverbindungen mit der weiten Welt verbindet. Der Wert dieser überaus großzügigen Unterstützung liegt bisher bei über 400.000 USD.

Die Schwierigkeiten, die sich uns mitunter in den Weg stellten, waren immens und mitunter Furcht einflößend. Im Juni 2006 verhängte das peruanische Kulturinstitut einen sofortigen Baustopp. Es hieß, wir hätten den Bau ohne die Lizenz der Behörde vorangetrieben. Die Strafandrohung von 700.000 USD konnte je nach weiterem Verlauf der Dinge auch das Ende von Diospi Suyana bedeuten. Da am 4. Juni Alan Garcia als neuer Staatspräsident gewählt worden war, bat ich den deutschen Botschafter mir eine Privataudienz beim Staatschef oder seiner Gattin Pilar Nores de García zu arrangieren. Dr. Roland Kliesow winkte müde ab. So kurz nach der Wahl sei selbst für ihn als Botschafter ein Treffen mit dem frisch gewählten Präsidentenehepaar nicht möglich. Aber Gott sah das offensichtlich ganz anders. Über geheimnisvolle Kontakte im Hintergrund erhielten meine Frau und ich für den 4. Juli eine Einladung in das Büro von Frau Nores. Unsere Laptop-Präsentation ging ihr mitten ins Herz. Als die 70-minütige Unterredung verstrichen war, hatte die First Lady Perus sich längst entschieden die Patenschaft unseres Projekts zu übernehmen. Kaum wurde das amtlich, zog das Kulturinstitut alle Forderungen zurück.

 

31. August 2007

Eine beeindruckende Kulisse. Viereinhalbtausend Menschen drängten sich ungeduldig in das Amphitheater neben dem Hospital Diospi Suyana. Ein volles Freilichttheater, ein großer Gebäudekomplex daneben und gewaltige Schneeberge in Sichtweite. Unser Traum eines modernen Missionsspitals, den Tina und ich so lange verfolgt hatten, war für jedermann sichtbare Realität geworden. Ich stand auf und schritt ans Mikrophon um die Eröffnungsansprache zu halten. Sie dauerte keine zehn Minuten und gipfelte in der Aussage, dass nur Gott viel aus wenig und alles aus dem Nichts schaffen könne. Gott alleine gebühre die Ehre.

 

Anlaufstelle für Hoffnungslose

Seit dem 22. Oktober 2007 ist das Krankenhaus in Betrieb. Bis zum Dezember 2023 haben wir 520.000 Patientenbesuche registriert. Sie sind keine anonymen Nummern in unserer Datei, sondern vielmehr Menschen aus allen Teilen des Landes, die mit der Hoffnung auf Heilung ihrer körperlichen Beschwerden am Spital Zuflucht suchten. In den morgendlichen Gottesdiensten hören sie, dass Gott sie liebt und dass schon die bloße Existenz des Hospitals von der Wirklichkeit Gottes zeugt. Unsere Einrichtung zählt ohne Zweifel zu den besten Kliniken des Landes und ist mit ihrer Ausstattung einem deutschen Kreiskrankenhaus ebenbürtig. 200 Mitarbeiter wissen sich dem großen Schild an der Auffahrt zum Krankenhaus verpflichtet. Dort heißt es nämlich: Diospi Suyana – Ein Krankenhaus, das die Liebe Jesu weitergibt. Diospi Suyana hat in unseren Köpfen eine radikale Veränderung vollzogen. Meine Frau Tina und ich verstehen uns nun zuerst als Christen, die sozusagen nebenberuflich auch Ärzte sind.

 

Das Buch

Im Sitzungssaal des Brunnen Verlags herrschte am 17. September 2009 große Ratlosigkeit. Wohl 15 Personen schauten nachdenklich in die Runde. Welchen Titel sollte das Buch, das ich über unsere Erfahrungsreise mit Gott verfasst hatte, denn haben? Vielleicht „Das Wunder von Peru“ oder „Hospital der Hoffnung“? Schließlich traten wir alle auf der Stelle. Leise sprach ich ein Gebet und meldete mich zu Wort: „Wissen Sie“, sagte ich langsam, „als ich diesen Bericht schrieb, hatte ich nur einen Titel vor Augen. Er drückt genau das aus, was ich mit diesem Buch sagen möchte. Er lautet: „Ich habe Gott gesehen!“

 

Die Geschichte geht weiter

Der Bau des Missionsspitals war das erste große Vorhaben von Diospi Suyana. Am 24. Juni 2010 folgte die Einweihung der Dental- und Augenklinik und im April 2012 die Fertigstellung eines Kinderhauses für die Diospi-Suyana-Kinderclubs. Am 14. März 2014 wurde die Diospi-Suyana-Schule ihrer Bestimmung übergeben. Die Schule und Kindergarten werden einmal 700 Kinder in ihrer Entwicklung fördern. Wir sind dankbar, dass wir mit den Familien Bigalke, Rehder und Rosenkranz fähige Direktorenehepaare für die Schule gefunden haben.  Seit August 2016 ist unser Medienzentrum mit zwei Radio- und einem Fernsehstudio in Betrieb. Langfristig will Diospi Suyana zumindest den ganzen Süden Perus mit einem christlichen Familiensender erreichen. Im April 2023 feierten wir mit Jugendlichen aus mehreren Ländern und 14 Bundesstaaten Perus ein fünftägiges Festival unter dem Thema “Eco en los Andes”. Die Abendkonzerte wurden zwischen 2500 und 3500 Teilnehmern besucht. Wir wissen nicht, welche Höhen und Tiefen Diospi Suyana zukünftig noch durchmachen wird. Aber wir legen unser Leben und unser Lebenswerk in Gottes Hände.

 

Ein großes Fest

Am 31. August 2017 feierte Diospi Suyana in Anwesenheit des peruanischen Staatschefs Pedro Pablo Kuczynski und fünf TV-Teams aus Lima das zehnjährige Jubiläum des Hospitals Diospi Suyana. Der Event wurde eine Stunde lang live im nationalen Fernsehen ausgestrahlt. Der Präsident bezeichnete unsere Arbeit als ein Werk mit Herz und Sachverstand. Einmal mehr erzählten meine Frau und ich die Geschichte von Diospi Suyana. Unsere Aussage war klar und unmissverständlich. Auch im 21. Jahrhundert lohnt es sich auf Gott zu vertrauen.

Diese Botschaft haben nach unseren Schätzungen in den letzten Jahren über 600 Medienreportagen weltweit an 100 Millionen Zuschauer, Hörer und Leser transportiert. Gott ist kein Gag, kein Strohhalm und kein Trostpflaster, sondern die höchste Instanz in unserem Universum.

 

Dankesworte

Das Herzstück von Diospi Suyana sind seine  Mitarbeiter. Sie kamen bisher aus 17 verschiedenen Ländern. Diese Ärzte, Krankenschwestern, Lehrer, Sozialarbeiter und Handwerker investieren die besten Jahre ihres Lebens für Gott und ihre Mitmenschen. Ihnen gilt unser besonderer Dank. Olaf Böttger, der Vorsitzende von Diospi Suyana, hält seit der Gründung unseres Vereins viele Fäden in seinen Händen. Tag für Tag leistet er im Hintergrund einen unschätzbaren Dienst. Danken möchten wir den Unterstützern und Freunden weltweit. Bis zum Dezember 2023 haben rund 150.000 Privatpersonen und 250 Firmen eine Summe von über 44 Millionen USD gespendet.

Im Neuen Testament schreibt Paulus: “Gott aber kann viel mehr tun, als wir jemals von ihm erbitten oder uns auch nur vorstellen können. So groß ist seine Kraft, die in uns wirkt!” Dieser Satz hat sich in der faszinierenden Geschichte von Diospi Suyana immer wieder bewahrheitet. Deshalb danken wir Gott für seine Treue und Güte. Johann Sebastian Bach schrieb unter jede seiner Kompositionen das Kürzel “SDG”. Die drei Buchstaben stehen für Soli Deo Gloria und bedeuten: “Gott allein gebührt die Ehre!”

Martina und Klaus-Dieter John

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