Alptraum in der Berghütte

Cornelia Vargas Alfaro slider

Ein Sturz in die Hoffnungslosigkeit

Fast eine ganze Stunde warten wir beide in einem Taxi in Cusco. Es fehlen noch zwei weitere Mitfahrer nach Curahuasi, also haben wir Zeit zum Reden. Das, was mir Cornelia Vargas aus ihrem Leben erzählt, ist so spannend, dass ich sie gleich für den nächsten Tag ins Krankenhaus einlade. „Sind Sie wirklich einverstanden, dass ich ihre Lebensgeschichte auf unserer Webseite veröffentliche?“, frage ich die Frau. „Ja, natürlich, ich hoffe, sie macht anderen Menschen Mut!“

1969: Cornelia lebt mit drei Geschwistern bei ihren Eltern im Bergdorf Antilla. Zu Hause herrscht die Armut und die Situation verschlimmert sich noch, als Viehdiebe immer wieder Tiere der Familie stehlen. An einem späten Abend kommt es in den Bergen zu einem schicksalhaften Treffen zwischen ihrem Vater und dem Kopf der Bande. Der Kriminelle fühlt sich ziemlich sicher und prahlt: “Wir werden uns auch in Zukunft alles bei euch holen, was wir wollen!” Cornelias Vater ist außer sich vor Wut. Er greift zur Axt und schlägt auf den Verbrecher ein. Er liegt nun blutend am Wegrand und rührt sich nicht mehr. Er ist anscheinend tot. Doch bevor er seinen Verletzungen erliegt, kann er anderen Bergbauern noch den Namen seines Mörders mitteilen.

Es ist eine Frage von wenigen Tagen und man bringt Cornelias Vater in das Gefängnis von Abancay.

Cornelias Mutter ist eine einfache Bauersfrau. Die Gefängnisstrafe ihres Mannes und die Verantwortung für die Kinder bringen sie an den Rand der Belastbarkeit. Es zeigen sich bei ihr schwere körperliche Symptome. Die Koliken im Bauch werden so stark, dass man sie im Krankenwagen zum Stadtkrankenhaus von Cusco bringt. Innerhalb weniger Stunden verstirbt sie dort auf dem Operationstisch. Der Vater im Knast, die Mutter im Leichenkeller und vier kleine Kinder in einer Hütte.

Nach dem Begräbnis werden die Kinder unter der Verwandtschaft aufgeteilt. Cornelia landet mit fünf Jahren bei ihrer Tante in Lima. Dort erfährt sie bittere Strenge. Gelegentlich schlägt die Frau sie sogar mit einer Peitsche. Kein Kuss, kein liebes Wort, keine Umarmung.

Mit zehn Jahren wird sie an eine Familie weitergeben. Sie ist zwar selbst noch ein Kind, aber sie soll jetzt auf die Kleinen ihrer Pflegefamilie aufpassen. Auch hier hört sie kein Lob und erntet keinen Zuspruch. Als Teenager darf sie am Abend zur Schule gehen. Allerdings hat sie tagsüber keine Zeit, um ihre Hausaufgaben zu machen.

„Warum musste meine Mama sterben?“ Diese bohrende Frage beschäftigt Cornelia jahrelang. Sie hat kein inneres Bild von ihren Eltern. „Wo komme ich her, wer bin ich?“ Das Kind hat so viele Fragen, aber sie erhält nur eine Antwort: „Das Leben ist hart, du musst dich durchbeißen!“

Mit 15 Jahren unternimmt sie die weite Reise von Lima nach Apurimac. Sie sucht ihren Vater. Nach einer dreijährigen Gefängnisstrafe hat man ihn entlassen. Als gebrochener Mann lebt er zurückgezogen in einer Unterkunft seines Bruders. Cornelia findet ihn und schaut nach einem Jahrzehnt in die Augen dessen, der sie gezeugt hat. Auch hier wartet sie umsonst auf Zuneigung. Der Mann vor ihr ist ein Fremder. Kein Lächeln, keine zärtliche Berührung, kein aufmunterndes Wort. „Arbeite für mich!“, herrscht der Mann sich an. „Du musst für mich kochen und meinen Haushalt führen!“

Nach drei Monaten kehrt das Mädchen nach Lima zurück und das Leben geht weiter wie gewohnt. Tagsüber arbeitet sie für eine Familie und abends lernt sie an einer Schule.

Mit 17 Jahren trifft sie einen Jungen in der Klasse, der ihr zum ersten Mal seit dem Tod der Mutter echte Liebe vermittelt. Diese Verbindung hält und einige Jahre später heiraten die beiden in Lima. Die Ehe ist nicht einfach. Cornelia weiß eigentlich gar nicht, wie ein richtiges Familienleben aussieht.

Cornelia ist mit ihrem vierten Kind schwanger und sie findet sich im Krankenhaus „Dos de Mayo“ zum Geburtstermin ein. Der diensthabende Gynäkologe schaut sich ihre Blutwerte an und teilt ihr eine bittere Wahrheit mit. „Ihr HB liegt nur bei 6. Entweder sie oder ihr Kind werden höchstwahrscheinlich sterben!“

Die junge Mutter liegt auf dem Tisch des Kreissaals und ist völlig verzweifelt. „Wenn ich jetzt sterbe, werden meine Kinder das gleiche erleiden, was ich in meiner Kinder- und Jugendzeit durchgemacht habe. Cornelia wendet ihren Kopf zur Seite und betet: „Oh Gott, ich lege mein Leben in Deine Hände. Wenn Du mich und mein Kind rettest, will ich immer Deinen Willen tun!“ Was sich hier abspielt ist eine Art Bekehrung im Angesicht des Todes.

Cornelia überlebt und ihr Baby auch.

Der Schrei zu Gott auf einem OP-Tisch war mehr als ein Greifen nach dem letzten Strohhalm. Cornelia vertraut auf Gott und liest jetzt regelmäßig in der Bibel. Sonntags geht sie in eine evangelische Kirchengemeinde. Ihr Mann kommt sogar mit. Das Bauernmädchen aus den Bergen von Curahuasi ist wie verändert. Sie strahlt eine Hoffnung aus und fühlt sich von Gott geliebt. Ihr Ehemann ist verblüfft und schließlich überzeugt. Auch er entscheidet sich bewusst für ein Leben an Gottes Hand.

Das war vor 18 Jahren. Ich blicke nachdenklich in das Gesicht der Frau neben mir am Schreibtisch. Ich hatte es in meinem Leben so unendlich viel leichter.

„Dr. Klaus“, fährt Cornelia Vargas fort, „meine Seele war voller Wunden und Narben. Ich war ein geschlagenes Mädchen ohne Hoffnung. Aber Jesus Christus hat im Laufe der Jahre meine Wunden geheilt. Ich fühle mich bei ihm geborgen. Meine Ehe hat sich zum Guten verwandelt, wir lieben uns in unserer Familie. Ich bin Gott so dankbar für alles, was er mir geschenkt hat. Alles, was ich durchgemacht habe, hatte einen tieferen Sinn!“

Ich nicke unmerklich und wünsche ihr zum Abschied Gottes Segen. /KDJ

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